Der Mensch wird am Du zum Ich.
— Martin Buber
Mein früherer Schauspiel- und Gesangslehrer Dirk Mestmacher war es, der mir erstmals die Alexander-Technik zeigte.1 Bei unserem ersten Treffen sprach er aus, was ich zu lange verdrängt hatte:
»Du erträgst dich körperlich nicht.«
Natürlich hatte er recht. Ich erzählte ihm von meinen Heißhungerattacken, wie sie mich überfielen und demütigten. Er erklärte mir, was ich tun sollte, wenn sie kamen. Und wie ich durch Bewegung meinen Körper wieder bewohnen konnte, statt ihn nur zu erleiden. Dirk wurde einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Eine Voraussetzung für die Freilegung meines unter Geröll vergrabenen Selbst. Nachdem ich durch ihn der wurde, der ich wirklich war, lebte ich anders. Ich zog nach Berlin und erschuf KOKOS & ZITRONE, zunächst als Printmagazin, YouTube-Kanal und Podcast-Serie.
Jahre vergingen. Und mit der Selbstwerdung kam zurück, was ich schon mit vierzehn lernen wollte, nachdem mich das Jugendamt aus dem Elternhaus nahm und in eine WG in Hameln verlegte. Damals hatten mich Ereignisse davon abgehalten. Nun, in Berlin, fing ich endlich an, Japanisch zu lernen. Ein wichtiger Grund für mein Japanologiestudium an der FU war die Musik. Japanische Musik berührt mich, weil sie sich wie Zuhause anfühlt, weil sich etwas in mir jedes Mal verstanden fühlt, wenn ich sie höre. Sie ist Selbstsein nach langem Schlummern im falschen Selbst.
Im selben Jahr begann ich Gitarrenunterricht bei Werner Kuschmierz, dem besten Gitarrenlehrer Berlins. Das war wichtig, um meine japanischen Lieblingssongs zu lernen. Über Werner lernte ich Alexander Olschewski kennen, einen Geigenspieler, der die Alexander-Technik lehrte. Das Buch von F. M. Alexander2 hatte ich noch aus der Zeit bei Dirk, aber die Technik hatte ich beinahe wieder vergessen. Von nun an kam ich einmal die Woche zu Olschewski.
Er half mir, zu meinem Selbst zurückzufinden, von dem ich mich immer wieder entfernt hatte, auch nachdem ich nach Berlin gezogen war. Immer wieder unterbrach ich den Bau jener gewaltigen Kathedrale, die KOKOS & ZITRONE war. Olschewski wurde mir ebenso wichtig wie damals Dirk, weil er mir half, meine Talente zu leben, die die Welt bereichern, statt sie zu stören.
Finanzielle Probleme führten zur Unterbrechung des Unterrichts. Dann bekam ich Epilepsie. Anfälle, die mich aus dem Nichts überfielen, meinen Körper übernahmen, mich zum Zuschauer meiner selbst machten. Die existenzielle Angst vor Kontrollverlust fraß sich in mich hinein. Ein Jahr später nahm ich wieder Kontakt mit Olschewski auf. Er kam mir finanziell entgegen, bot mir einen Preis weit unter ›marktüblich‹, mit der Begründung, er unterrichte mich nicht bloß wegen des Geldes, sondern aus Wertschätzung.
Olschewski war für mich ein Anker. Er sah in mir nie den Kranken oder Blockierten. Er erinnerte mich daran, nicht das leidende Ich zu sein, sondern der freie Beobachter dahinter. Durch ihn lernte ich, den Kampf gegen meine Geister aufzugeben und darauf zu vertrauen, dass ich nicht das stürmische Wetter meiner Gefühle bin, sondern der weite Himmel, in dem diese nur vorüberziehen.
Olschewski interpretierte die Alexander-Technik nicht nur als Körperarbeit, sondern als Zugang zu einer spirituellen Dimension. Sein eigener Lehrer war Mooji, ein bedeutender Advaita-Gelehrter. Es gibt ein seltenes Foto von Olschewski und Mooji, das mich jedes Mal tief berührt, wenn ich es betrachte. Man sieht Olschewski an, wie viel ihm diese Begegnung bedeutet haben muss.
Jede Begegnung ist ein ganzes Leben. Und ein Moment, gelebt, bleibt ewig.
Mooji geht es um einen nicht-dualen Zustand, der entsteht, wenn alle Anstrengungen, eine Identität aufrechtzuerhalten, fallengelassen werden. Wohlbefinden, Freiheit und Frieden sind nicht Qualitäten, die mühsam erlangt werden müssen, sondern bereits vorhandene Qualitäten unserer Existenz, die nur durch die Subjekt-Objekt-Spaltung verdeckt werden.
Eine zweite Quelle, die Olschewski beeinflusste, war Ein Kurs in Wundern. Ich las bereits seit einem halben Jahrzehnt Bücher darüber, hatte es dann aber wieder vergessen. Das Vergessen dessen, was ich bin und was mir wichtig ist, war und ist das größte Übel. Es ist der Dämon, den ich täglich bekämpfen muss. Ich verliere den Kampf oft. Wenn ich ein Video mache oder einen Text schreibe, ist es immer auch zugleich ein Wiederherstellungspunkt für mich. Eine Absicherung, dass ich zurück kann, wenn ich das nächste Mal vergesse, wer ich bin und was meine Aufgabe in dieser Welt ist.
Olschewski half mir bei der Neudefinition meines Ichs. Ich berichtete ihm von meinem Gefühl der Verkrampfung und den Phantomen, die mich verfolgten. Er deutete diese Wahrnehmung radikal um: Das leidende Ich, das Patchwork-Ich, ist eine Konstruktion. Ich bin der Raum, in dem diese Gefühle nur auftauchen. Ich bin diese Gefühle und Gedanken nicht. Ich bin der, der sie beobachtet. Immer wieder erinnerte mich Olschewski mit dem Satz: »Finde den, der sieht.«
Er nutzte meine Krisen nicht als Grund zur Sorge, sondern als Gelegenheit für spirituelles Wachstum. Er brachte mir bei, dass Krankheit ein Phänomen im Körper ist, aber das wahre Selbst davon unberührt bleibt. Und er bewahrte mich davor, mich mit der Rolle des Kranken zu identifizieren.
In unseren Sessions beschrieb ich mich immer wieder als unruhig, ernst, mir selbst fremd. Olschewski spiegelte mir konsequent eine andere Realität zurück. Nicht Defizit, sondern Ressource. Er sah in mir totale Kraft, Leichtigkeit, Frische. Er weigerte sich, auf meine negative Selbstbeschreibung einzusteigen, und adressierte stattdessen die formlose Lebendigkeit in mir. Er betrachtete mich als ein Wunder, das lediglich durch Gewohnheiten verdeckt ist.
Ich war mit vielen Menschen verbunden, die außerordentlich begabt waren. Musiker, Schauspieler, Künstler. Einige von ihnen ließen ihr Talent verkümmern, ließen sich gehen, wurden drogensüchtig, dick und hässlich. Ich selbst war in solche Löcher gefallen. Bis kurz vor meinem Studium in Kassel war ich adipös. 1,4-Abitur, Beinahe-Schulsprecher und Lyrikpreis hatte ich trotzdem geschafft, aber von dem, was ich eigentlich war, hätte ich kaum weiter entfernt sein können.
Zusehen zu müssen, immer wieder in meinem Leben, wie die, die mir am meisten bedeuten, anfangen zu kiffen oder zu saufen, sich fett und krank fressen, ihre Talente verkümmern lassen, aufhören zu arbeiten und von Transferleistungen leben, ist für mich ein tiefes, tiefes Trauma. Praktisch hatte es immer eines zur Folge: Dass ich die schöne, helle, unbeugsame und wahre Seite jener Menschen weitertrug, die der Dunkelheit anheimgefallen waren. Als Zeuge für das, was war. Als Bewahrer des Wertvollen, das diese Menschen selbst nicht mehr tragen wollten. Das verpflichtete mich innerlich, mich selbst nicht verkümmern zu lassen: die Verantwortung für jene hellen und wertvollen Menschen, die mich dazu brachten, weiterzuleben. Die Dunkelheit, die über sie hereingebrochen war, verpflichtete mich, mein eigenes Licht umso heller leuchten zu lassen.
Von vielen dieser Menschen habe ich die schönsten Fotos auf meinem Schreibtisch. Sie oder das, was sie waren, begleitet mich stets, ist zu einem Teil von mir geworden. Ihre Schönheit erinnert mich an meine eigene Schönheit, Stellvertreterin einer unsichtbaren Gemeinschaft, nie Selbstzweck.
Das Vergessen brachte mich von dieser Verpflichtung weg, aber meine Lehrer erinnerten mich daran, zu mir selbst und damit meiner Aufgabe zurückzukehren. Die größte Schuld, die ich mir je aufladen konnte, ist, das Bild, das diese Menschen von mir hatten, zu entweihen, indem ich aufhörte, so freundlich und respektvoll mit mir umzugehen, wie sie mit mir umgegangen waren.
Olschewski lehrte mich das Prinzip des Nicht-Tuns. Er zeigte mir, dass ich mich nicht anstrengen muss, um richtig zu sein, so wie eine Giraffe sich nicht anstrengt, einen langen Hals zu haben. Er ermutigte mich, den Kampf gegen die Geister aufzugeben und sie nur zu betrachten. So verlieren sie ihre Macht. Jeder seiner Sätze war mir Quelle und ewiger Palast.
Man stelle sich vor: Ich stehe mitten in einem heftigen Gewitter und glaube, ich selbst sei der Donner, der Blitz und der prasselnde Regen. Ich versuche verzweifelt, den Regen mit den Händen aufzuhalten und den Donner leiser zu drehen, was mich erschöpft und verzweifeln lässt. Olschewski war derjenige, der neben mir steht, mir die Hand auf die Schulter legt und sagt:
Du bist nicht das Wetter. Du bist der Himmel.
Eine Methode der Körperarbeit, entwickelt von Frederick Matthias Alexander im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Verbreitet vor allem unter Künstlern, deren Instrument der eigene Körper ist — Musiker, Schauspieler, Sänger, Tänzer.
The Use of the Self, New York 1932.




