Manchmal muss man die Regel brechen, um sie einzuhalten. Wer das für eine Ausrede hält, kann es leicht testen. Man gebe einem Sprachmodell mal eine der größeren Passagen der Literaturgeschichte und bitte es, sie zu »optimieren«. Tolkiens Ringgedicht1 zum Beispiel über die Macht des Einen. Es enthält einen Satz, der eigentlich keiner ist:
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden2
Jede Schreibassistenz der Welt, jede Grammatik-App, jedes pedantische Korrektorat würde hier anschlagen.
Das ist unvollständig.
Das muss glattgezogen werden.
Da fehlt ein »um«.
So wäre aus einem Bannspruch eine Behörde geworden.
Handwerk sagt: Adjektive streichen, Passiv vermeiden, zeigen statt erklären, Füllwörter raus, Wiederholungen raus.
Alles richtig. Alles gefährlich.
Kunst ist nicht Regelgehorsam. Kunst ist zu wissen, wann Regeln den Text nicht mehr tragen.
Menschen können das. Maschinen nicht.
Für Maschinen fühlen sich Regeln nach nichts an: kein Körpergefühl, keine Scham, keine Spannung. Nur Muster. Literatur beginnt da, wo das Geländer fehlt: grammatisch daneben, rhythmisch wahr. Unvollständig, aber vollkommen. Ein Bruch, in den der Leser fällt und sich selbst ergänzt. Lücken sind nicht Defizit. Sie sind Quelle. Leerstellen sind Fundstellen.
Sprache hat eine lästige Eigenschaft: Sie funktioniert am besten dort, wo sie scheinbar nicht stattfindet. In Auslassungen. Da arbeitet der Leser. In Stolpersekunden: wo Bedeutung nicht expressis verbis, sondern implizit ist. Der Leser schreibt mit, und der Text wird klüger als sein Autor.
Sprachmodelle hassen das.
Für sie ist eine Lücke kein Mittel, sondern ein Loch.
Das wollen sie stopfen, dieses Loch: es ist ein Defekt.
Sie verkennen den Unterschied zwischen Vollständigkeit und Ganzsein: Optimum und completeness, Perfektion und Vollkommenheit.
Ganz ist aber nicht vollständig. Der Tod ist vollständig.
Ein Text ist ganz, weil er etwas offen lässt. Sprachmodelle kommen da intellektuell nicht mit. Sie schreiben wie Verwaltungsmassenmörder. Sie wickeln Leichen ab, sequenziell, Token für Token. Sie füllen Übergänge, erklären Kausalitäten, glätten Ellipsen, schließen Klammern. Sie ertragen keine Zustände, die wie unfertig aussehen, weil »unfertig« statistisch selten als Endpunkt auftaucht. Als ob es keinen Morgen gäbe, spachteln sie jede offene Stelle zu — bis nichts mehr atmet.
Sei hilfreich. Sei vollständig. Tilge Diskontinuität.
Dafür wurden sie gebaut: maximale Information bei minimalem Sinnverstehen.
Generierte Texte löschen innere Tätigkeit. Die bekommen dann fünf Sterne und — werden weggelegt. Sie regen den Leser nicht an, in der Fantasie zu ergänzen. Wie ein hochaufgelöstes Foto: ohne Leben.
Sie berühren nicht und lassen sich nicht berühren.
Sie fühlen sich weder gut noch schlecht an.
Sie fühlen sich einfach gar nicht an.
Wer nicht fühlen will, mag das.
Oder wer Gefühle nur aufsetzt, weil die echten längst unter Sand liegen.
Künstliche Intelligenz verdoppelt das — »als hätte jemand [unsere] Organe in den Raum gehängt.«3 In meinen Romanen schreibe ich dagegen an, indem ich Sätze und Figuren baue, die sich nicht ohne Weiteres modellieren lassen.
Literatur ist nicht Information. Je mehr Information, desto geringer das Sinnverstehen. Sprachmodelle blühen in dieser Flut auf. Menschen nicht. Kreativ werde ich, wenn ich Input reduziere. Zum Zombie werde ich, wenn ich mich flute.
Sprachmodelle bewältigen Molekulardynamik, Teilchenphysik, Kryptographie. Und sie scheitern an einem Vierzeiler, der nicht wie Parodie klingt. Sie können Regelbruch simulieren, aber nicht meinen. Sie können Kratzer auf neuem Holz, aber kein Vintage. Information macht keine Literatur. Indexikalität4 macht Literatur. Nicht Muster, sondern Gegenwert: Spur, Rest, Geste, etwas, das auf ein gelebtes Außen zeigt, auf Körper, auf Risiko. Menschen machen daraus Bedeutung. »Optimal« heißt: lebensfeindlich.



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Literatur entsteht im Numinosen, in der Aussichtslosigkeit, im Fragmentarischen, im Nullvektorraum. Hundert Prozent erzeugen keinen Subtext, keine Spannung, keine Würde.
Je stärker die Modelle werden, je mehr ich sie mit großer Literatur füttere, desto unbeholfener wird ihr Umgang mit dem, woraus Literatur besteht.
Und wenn nichts mehr stolpert, muss niemand mehr laufen. Dann schwebt man. Ohne wach zu sein. Wie ein Betrunkener inmitten einer galoppierenden Zebraherde. Oder wie auf elektronischem LSD ohne geistiges Chlorophyll.
Man nickt und — gibt nach.
Das ist die Gefahr, die keiner so gern ausspricht, weil sie nicht nach Eschatologie klingt. KI ist nicht Orwell, sondern Huxley. Sie übernimmt nicht die Welt. Sie macht sie so glatt, dass wir nicht mehr merken, wo wir angefangen haben, uns selbst wegzuoptimieren. Höflichkeit als Herrschaftsform.
Vielleicht ist das die präziseste Definition digitaler Lobotomie: kein Schnitt, nur höfliche Korrektur. Und am Ende schaut alles ›richtig‹ aus — wie der schreckliche Blick der Medusa.
Hübsch lächelt der Text. Wie eine Vitrine.
Ohne Wahr.
Künstliche Intelligenz räumt unsere Welt auf, bis wir uns in ihr nicht mehr vorfinden. Keine Reibung, keine Entwicklung. Das Andere: ausgetrieben. Von der Tilgung der Ellipse bis zur Entmündigung durch Regelgehorsam ist es nur ein Schritt. Was bei Tolkien ein Bannspruch war, wird technisch gelesen zum Fehler. Die Maschine schließt die Lücke, die uns zu Menschen gemacht hat. Höfliche Korrektur, Automatisierung, KPIs, Produktivitätsgewinne, Umsatzsteigerung, Leichenregen.
Schön und neu wird die Welt. Aber es wohnen keine Menschen darin. Nur höfliche Grausamkeit. Sie entzieht sich jedem Zugriff, so sehr wir auch versuchen, uns ihr anzunähern. Eine Reihe, die gegen Eins konvergiert und nie ankommt. So fühlt es sich an, mit einer Maschine zu reden.
Unser Sprechen und Denken über KI ist asymptotisch. Wir sehen etwas ›da vorne‹, fahren drauf zu, und es bleibt immer ›da vorne‹. Nicht weil wir zu doof zum Segeln wären, sondern weil das Ding, das wir suchen, keinen Ort hat.
KI kommt uns beliebig nahe, Modell für Modell, bis der Abstand zur Linie gegen Null geht.
Aber sie schneidet sie nicht.
Sie schneidet sie nie.
Wie ein Ladebalken, der kurz vor Ende immer länger braucht. Als fiele er in eine fraktale Struktur: eine vierte geometrische Dimension, in der sich hinter jeder Oberfläche nur eine weitere Oberfläche verbirgt. Bis das System abstürzt.
Das Paradies ist ein Versprechen, das nie Ort wird. Es ist ein Zustand. Es lässt sich definieren, berechnen, optimieren. So wie Sprachmodelle Literatur berechnen. Aber anfassen lässt es sich nicht.
Künstler wissen etwas, das man nicht prompten kann, weil es aus etwas entsteht, das weder das Eine noch das Andere ist und doch beides. Manchmal muss man lügen, um die Wahrheit zu sagen. So wie ich gelogen habe, als ich sagte, eine Ellipse sei eigentlich kein Satz: Diese Verkürzung war nötig, um den Punkt klarzumachen.
J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe: Die Gefährten, Erstes Buch, Zweites Kapitel [»Die Schatten der Vergangenheit«].
One Ring to rule them all, One Ring to find them,
One Ring to bring them all and in the darkness bind them
Emilie von Drachenfels, Der Ewige Palast, Berlin 2024, 429.
Indexikalität bezeichnet Zeichen, die nicht konventionell bedeuten (Symbol) oder ähnlich sind (Ikon), sondern durch eine Kausalbeziehung auf etwas außerhalb ihrer selbst verweisen: Rauch auf Feuer, Fußspuren auf ein Tier, ein Fingerabdruck, ein Foto als Lichtabdruck. Solche Zeichen haben Realitätsbezug: sie tragen Verbindung zum Körperlichen, Geschehenen. In literarischen Texten meint Indexikalität jene Stellen, an denen Sprache nicht bloß Muster bildet, sondern Spuren der Welt trägt, die der Leser zu Bedeutung zusammenfügt.


